Predigt von Ulrich Knellwolf zur Legislatureröffnung
des Kantonsparlaments
«Die Struktur unseres Staates gibt dem Streit zu wenig Chancen,
weil sie ihm zu wenig Legalität gibt.» Mit dieser und andern
bemerkenswerten Äusserungen richtete sich der Theologe und
Schriftsteller Ulrich Knellwolf in der St.-Ursen-Kathedrale an
die Politikerinnen und Politiker.
«Die Liebe beginnt mit dem Gesetz», postuliert Knellwolf in
Anlehnung an die Lehren des Apostel Paulus. Deshalb seien die
Mitglieder von Parlament und Regierung «Statthalter der Liebe».
Und der Gastprediger gibt sich überzeugt, «dass dort, wo kein
Gesetz mehr gilt, die Liebe nicht etwa Überhand nimmt, sondern
unter die Räder kommt». Deshalb sei es «eine im höchsten Mass
Gott wohlgefällige Tätigkeit», für Gesetz und Recht
einzustehen. Politik sei deshalb nicht grundsätzlich ein
Dreckgeschäft, sondern eine unter Gottes Segen stehende Arbeit,
die mit Liebe zu tun habe: «Das zentrale Traktandum der Politik
ist die Nächstenliebe in der Form des Gesetzes.»
In der Liebe seien Unterstützung und Kritik keine Gegensätze,
unterstreicht Ulrich Knellwolf. Vielmehr ermögliche die Liebe
den Streit, weil sie verhindere, dass er in vernichtenden Hass
umschlage: «Die Liebe gibt dem Streit einen gesetzlichen Rahmen
und hindert ihn so, in Krieg auszuarten.»
«Wir streiten zu wenig»
In diesem Punkt sieht Knellwolf ein Problem zur schweizerischen
Form von Demokratie: «Wir leiden unter einem Mangel an
institutionalisiertem Streit. Also an einem Mangel an Streit, der
von der Liebe in einen gesetzlichen Rahmen gefasst ist.» Unsere
staatlichen Institutionen verbannten nämlich den Streit zu
schnell in den diffusen Raum der Gesetzlosigkeit. Er halte dies für
einen angeborenen Fehler unserer Verfassung seit 1848, betont
Knellwolf.
Die Struktur unseres Staates gebe dem Streit zu wenig Chancen,
weil sie ihm zu wenig Legalität gebe. Dieser strukturelle Mangel
behindere die Schweiz zunehmend innen- und aussenpolitisch: «Ein
Lehrstück dafür war unsere Haltung bei den Verhandlungen im
Fluglärmstreit mit Deutschland.» Ein Analytiker habe dazu
geschrieben, die Mitglieder einer alle grossen Parteien
umfassenden Kollegialregierung seien nicht daran gewöhnt, Streit
auszutragen. Sie tendierten zu schnell zu Kompromissen und
Konsens.
Nach Auffassung von Ulrich Knellwolf ist Streit in der Politik
dringend nötig, «denn er ist nichts anderes als die Evaluation
des politisch Möglichen.» Lasse man dem Streit nicht genügend
Raum, würden die Möglichkeiten zuwenig ausgeschöpft.
Bezüglich einer echten Streitkultur schneide die
Konkordanzdemokratie schlechter ab als die parlamentarische
Demokratie aus Regierungspartei und Opposition nach englischem
Muster. Doch Knellwolf ist überzeugt, dass dort, wo der
substantielle politische Streit zu kurz komme, alsbald die Scharmützel
Überhand nähmen: «Das Satirespiel im Zusammenhang mit dem
zweiten Wahlgang für die Solothurner Regierung sollte da eine
Warnung sein.»
Gebot mit Augenmass
Die Bibel sage: «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich
selbst.» Das sei ein Gebot mit Augenmass. Und es solle als
Wegleitung gelten, denn: «Wer sich aus den Augen verliert, dient
nicht dem Leben, sondern dem Tod - und wenn er in einem Parlament
oder sogar in einer Regierung sässe.»
Abschliessend unterstreicht Knellwolf nochmals: «Die Liebe
beginnt mit dem Gesetz und das Gesetz hat seine Erfüllung in der
Liebe. Nicht soll das Gesetz lieblos und die Liebe gesetzlos
werden.» Und an die Adresse der Regierungs- und
Parlamentsmitglieder meint er: «Ob es Ihnen gelingt, Gesetz und
Liebe aufeinander zu beziehen und nicht zu scheiden, daran wird
Ihre Arbeit vor dem Richterstuhl des Lebens gemessen werden.»
bn
erschienen in der Solothurner Zeitung / NMZ vom 2001-05-09;
Seite 10a